In: Neue Kreise ziehen, Fachzeitschrift für meditativen und sakralen Tanz, Ausgabe 2 „Lebensbahnen-Heilung“, Mai 2016
In diesem Artikel geht es um das Behandlungselement „Tanztherapie“ im Rahmen der Multimodalen Schmerztherapie, und ebenso um die Besonderheit der Integration des „Meditativen Tanzes“ und der „Bewegungsmeditation“ in dieses Konzept. Doch was ist überhaupt die „Multimodale“, bzw. die „Interdisziplinäre Schmerztherapie“?
In der multimodalen Schmerztherapie werden Menschen mit chronischen Schmerzen durch ein interdisziplinäres Team behandelt. Alternativbezeichnung ist MDT (= multidisciplinary treatment). Ärztliche und medikamentöse Behandlung, physio- und ergotherapeutische sowie psychotherapeutische Behandlung und Diagnostik ergänzen sich gegenseitig, in regelmäßigen Teambesprechungen werden Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Arbeit mit dem Patienten zusammengetragen. Zusätzlich werden, je nach Einrichtung, ergänzende Therapieverfahren angeboten, wie zum Beispiel Tanz- und Musiktherapie, Kunsttherapie, Yoga, Tai Chi oder Nordic-Walking. Der Behandlung geht in der Regel ein fachübergreifendes Assessment (Voruntersuchung) voraus.
Hintergrund ist die Abgrenzung von akuten und chronischen Schmerzen. Chronischer Schmerz (CS) wird heute als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet.
Die Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen ist bedingt durch das Zusammenwirken körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren (biopsychosoziales Modell). Weiterhin spielen Lernmechanismen eine besondere Rolle, nachvollziehbar in Form von neurobiologischen Veränderungen. Ziele der Behandlung des CS sind Schmerzkompetenz, Schmerzlinderung und Erhöhung der Lebensqualität (Kröner-Herwig et al. 2010; Nobis et al 2012). Die Entstehung und Aufrechterhaltung von CS werden den Betroffenen im MDT psychoedukativ vermittelt (Patientenschulung) und in Zusammenarbeit der benannten Disziplinen bearbeitet. Schwerpunkte liegen auf körperlich aktivierenden Behandlungselementen und dem Erlernen subjektiver Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei variiert der Umfang der Behandlung, je nach Einrichtung und Konzept, von 7 Tagen bis zu 5 Wochen. Nicht wenige Patienten erhalten Nachsorgebehandlungen, z.B. ambulante Psychotherapie, Traumatherapie, ambulante Physiotherapie oder andere Verfahren. Eine Wiederholung des krankenkassenfinanzierten MDT ist möglich.
Tanztherapie im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie
Obwohl bei der Voruntersuchung der Patienten das Kriterium der Belastbarkeit gegeben sein muss, um an dem sehr aktiv ausgerichteten Konzept teilnehmen zu können, ist die Gruppenzusammensetzung in der Realität sehr heterogen, das heißt, dass alle Altersgruppen, relativ mobile und eher immobile Menschen in einer Gruppe sind. Als Therapeut ist es daher notwendig, sich auf sehr verschiedene Krankheitsbilder einzustellen. Handelt es sich zum Beispiel um eine Schmerzerkrankung, die durch psychische Faktoren verstärkt wird, oder ist es eine psychische Erkrankung mit dem Symptom Schmerz? Liegen konkret Läsionen vor, z.B. Rückenoperationen, oder handelt es sich um funktionelle Störunge.
(Erkrankung ohne tatsächliche Schädigung), oder um vegetative Erkrankungen wie z.B. Fibromyalgie, um Kopfschmerz, Migräne, Nervenschmerzen, Schmerzen nach Unfällen. Patienten aus diesem breiten Indikationsspektrum sollen mit den Inhalten und den Zielen der Tanztherapie erreicht werden.
Im Folgenden wird das tanztherapeutische Konzept der Autorin durch Skizzierung und einzelne kurze Erläuterungen vorgestellt, wie sie es im Gruppenkontext in dem interdisziplinären Modell der HELIOS-Klinik in Herzberg/Osterode durchführt. Es handelt sich um ein funktionelles, selbsterfahrendes Konzept, das spezielle inhaltliche Themen der Schmerztherapie mit einbindet. Es ist keinesfalls „festgeschrieben“, sondern ändert sich in der Durchführung schon in der gleichen Einrichtung, je nachdem ob man es mit einer eingeschränkten, oder eher mit einer belastungsfähigen Gruppe zu tun hat. Es spielt eine Rolle, ob die Menschen den Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen, sozialen Umständen und Körper anerkennen können und welche Themen in der Gruppe vorrangig sind. Alle diese Faktoren wirken auf die Gestaltung ein.
Man unterscheidet bei Schmerzpatienten den „Vermeider“, der geprägt ist von Bewegungsangst und Bewegungsvermeidung, gegenüber dem „Durchhalter“ (nach Hasenbrink 2010), der sich fortlaufend überlastet und seine Grenzen herausfinden muss.
Alle Therapieeinheiten beginnen mit einer Einstimmung in den Körper: Mit sanften Bewegungen nach entsprechender Musik werden alle Körperabschnitte mobilisiert und vor allem bewusst gemacht. Der Fokus liegt auf der Körperwahrnehmung und der Wahrnehmung des Atems. An dieser Stelle ist auch schon eine Zielsetzung, dass für Patienten, die ein Körperteil dissoziieren, das heißt auf Grund des Schmerzes oder einer traumatischen Erfahrung abspalten und nicht spüren, wieder Möglichkeiten geschaffen werden, dieses Körperteil in die Bewegung und das Körperschema zu integrieren. Es werden Übungen und Tanz kreiert, um „Erdung“ und Stabilität zu erfahren. Tänzerisch werden Bewegungen erweitert und Zutrauen zu Bewegung verschafft. Weiterhin geht es um Bewegungserfahrungen im Raum. An dieser Stelle sind einige der Menschen schon überrascht, dass es möglich ist, durch genuss- und lustvolles Bewegen, was durch die Auswahl der Musik noch gefärbt wird, vorher bestehende Bewegungsgrenzen zu überschreiten.
Es werden Partnerübungen angeboten, entweder ohne, oder mit Berührung. Berührungen zu tolerieren ist nicht für alle Schmerzpatienten möglich, z.B. wenn eine posttraumatische Belastungsstörung oder Missbrauchserfahrungen zu Grunde liegen. Für viele Patienten sind diese Erfahrungen allerdings sehr angenehm, der Schmerz tritt in den Hintergrund oder, wie oft überraschend nach der Übung festgestellt wird: ist einfach nicht mehr wahrgenommen worden. Erklärungen werden mit Bezug zur neurobiologisch untermauerten Psychoeduktation vermittelt, hier Ablenkung und Aktivierung von schmerzdämpfenden Zentren im Gehirn. (Thalamus, „Belohnungszentren“).
Im weiteren Verlauf der Therapie ermöglichen freie oder angeleitete Improvisationen bekannte Formen zu verlassen und geben Raum, neue Bewegungserfahrungen zu machen, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Das Zulassen neuer Formen wird ermöglicht und ein neuer Bewegungsausdruck kann entstehen.
Bewegungsmeditationen werden durchgeführt und reflektiert. Die Integration der Bewegungsmeditation und des meditativen Tanzes in die Tanztherapie wird im Folgenden noch erläutert.
Für jede Stunde gilt, dass inhaltliche Themen und Wahrnehmungsübungen reflektiert werden, allerdings als kurzes Feedback. Die gemachten Erfahrungen werden mit in die Einzeltherapien gebracht, so dass dort die individuellen Themen weiter vertieft werden können. An dieser Stelle findet auch die Vernetzung mit der Psychotherapie statt.
Inhaltliche Themen in der Tanztherapie in diesem Konzept sind z.B. Erkennen und Abbau von Vermeidungs- und Überlastungsverhalten, Annahme/Akzeptanz, Balance zwischen Aktivität und Ruhe erfahren, eigener Raum, „Fokussierung“: ein Ziel finden und verfolgen, Abgrenzung, „Ja“ oder „Nein“ sagen, Selbst-Fürsorge und Selbstwirksamkeit, Zulassen neuer Bewegungsmuster und Verhaltensweisen.
So wie die Einstimmung als Anfangsritual gestaltet wird, wird jede Einheit durch ein Abschlussritual beendet, zum Beispiel durch einen Schwingkreis (siehe unten), eine Bewegungsmeditation oder auch eine aktivierende Übung, je nachdem, was für die Gruppe sinnvoll ist. Die rituelle Einbindung der Therapieeinheit vermittelt den Menschen Struktur und Sicherheit, was sich wiederum positiv auf den gesamten stationären Aufenthalt der Patienten auswirkt.
Integration des Meditativen Tanzes in das MDT:
Choreografien des Meditativen Tanzes sind sehr begrenzt von den Betroffenen tanzbar. Die Konzentration auf Schrittfolgen und vorgegebene Bewegungen fallen schwer durch die vorhandenen psychischen Belastungen, Depressivität und Konzentrationsstörungen. Die Bildung der Kreisform innerhalb der Therapie ist allerdings oft möglich und vermittelt die Erfahrung der Geborgenheit, des Vertrauens und der Unterstützung durch die Gruppe.
Dennoch kommt es vor, dass einfache Tänze erlernt werden können. Zum Beispiel „Der Wassertanz“ von Ziriah Voigt. Es bietet sich an, die Symbolik der meditativen Tänze inhaltlich in der Therapie zu nutzen.
Der Wassertanz bietet die Themen Reinigen, Altes, Überlebtes (Schmerz) loslassen, „Heilung“, und auch den wertvollen Moment der Erfahrung „wenn ich Altes losgelassen habe, ist das Neue oft noch nicht da. Ich gehe vorerst mit leeren Händen, bis ich neu schöpfen, und das Neue sich entwickeln darf“.
Falls körperliche Nähe zu anderen Teilnehmern toleriert wird, bietet sich ein „Schwingkreis“ an. Dabei stehen alle in einem engen Kreis, die Arme werden ausgebreitet und die rechte Hand jeweils auf den unteren Rücken der rechten Nachbarin, die linke Hand auf den unteren Rücken der linken Nachbarin gelegt. Jetzt schwingen alle sanft abwechselnd nach rechts und links, so dass eine gemeinsame Bewegung entsteht. Hier kann die Wahrnehmung des eigenen Körpers, aber auch die Unterstützung der Gruppe und die Geborgenheit des Kreises vermittelt werden.
Wassertanz
Choreografie: Ursprungschoreografie Nanni Kloke als Schalentanz
Modifizierung als Wassertanz: Ziriah Voigt
Musik: Enya, CD: “The Celts”, Fairytale
Tanzbeschreibung: Ritual und Tanz im Jahreskreis, Z. Voigt, Verlag G. Meussling, 1997
Schwingkreis
Beschreibung s.o. Erlernt bei diversen tanztherapeutischen Fortbildungen, z.B. „Integrative Tanztherapie“ bei Ursel Burek, „Biodanza“ bei C. Arrieta und R. Toro
Integration von Bewegungsmeditationen in das MDT:
Die Bewegungsmeditation ist ein sehr wirkungsvolles Element, um damit in der Tanztherapie innerhalb der Schmerztherapie zu arbeiten. Auch wenig mobile Menschen können davon profitieren und es ist möglich, sie im Sitzen auszuführen.
Was ist Bewegungsmeditation?
Dies ist, nach Interpretation der Autorin, eine Form der Meditation, in der Bewegung langsam und bewusst, „entschleunigt“, ausgeführt wird. Dadurch kommt es zu einer Aufmerksamkeitslenkung auf das „Hier und Jetzt“, auf die Bewegung und das eigene Empfinden innerhalb der Bewegung. Entscheidend ist, dass die Bewegung und das Empfinden dabei wahrgenommen, aber nicht bewertet werden, vergleichbar dem Achtsamkeitstraining.
Wie mache ich die Bewegungsmeditation therapeutisch nutzbar?
Mit dieser Form der Achtsamkeit ist es möglich, zu mehr Bewusstsein und Präsenz, sowie in die Entspannung zu gelangen. Viele Teilnehmer machen die Erfahrung, dass sie in der langsamen-bewussten Bewegung besser in die Entspannung gelangen, als bei Entspannungsverfahren, die in körperlicher Ruhe stattfinden. Vegetative Regulation durch Verbesserung der Entspannungsfähigkeit ist eines von vielen Therapiezielen in der Schmerztherapie.
Thematische Inhalte der Schmerztherapie lassen sich mit der Bewegungsmeditation nachhaltig erarbeiten und bewusst machen. Diese Inhalte werden, im Gegensatz zur psychotherapeutischen Gesprächstherapie, in den Körper aufgenommen, integriert und „in den Raum gestellt“. Diese Erfahrung von Themen sowohl auf der körperlichen, wie auf der emotionalen Ebene führt nach Erkenntnissen der modernen Neurobiologie zu einer stärker wirksamen Erfahrung und besseren Verknüpfung dieser Erfahrung im Gehirn. (Embodiment, z.B. Hüther et al, 2006)
Harmonie-Methode© nach Nanni Kloke
Bei dieser Methode wird auf das Chakrenmodell der indischen Philosophie Bezug genommen. Die Kraftzentren Kopf-, Herz- und Bauchquelle entsprechen folgenden Chakren: Die Kopfquelle dem Kronen- und Stirnchakra, die Herzquelle dem Hals- und Herzchakra, die Bauchquelle dem Solarplexus-, Sakral- und Wurzelchakra. Durch das Üben der Harmonien werden diese Quellen aktiviert, verbunden und der Energiefluss in den Körperbereichen, die diese Quellen versorgen, angeregt. Außerdem gelten auch die Wirkungsweisen der Bewegungsmeditationen, wie oben beschrieben.
Ein Beispiel für Bewegungsmeditation:
Meditation der 4-Himmelsrichtungen, entwickelt von Jabrane Mohamed Sebnat beschrieben z.B. in: Der Himmel in dir, W. Jäger, B. Grimm, Kösel Verlag 2007
Themen: Zentrierung, Bewusstsein der eigenen Körperachse, Erfahrung und Orientierung des Körpers im Raum, Anerkennen verschiedener Richtungen
Zwei Beispiele aus der Harmonielehre© N. Kloke
Harmonie: Das Annehmen© Nanni Kloke Thema: Annahme, Akzeptanz, loslassen, kraftvoll wieder aufrichten
Harmonie: Abgrenzung, zum Tanz „Wir danken dir Gott“© Nanni Kloke -Thema: Abgrenzung, eigener Raum, „nein“ sagen, Selbstfürsorge
Das Ziel in der Schmerztherapie ist nicht in erster Linie Heilung oder Schmerzfreiheit. Das ist bei den wenigsten Patienten möglich. Realistische Ziele sind Schmerzlinderung, Erhöhung der Lebensqualität durch Reaktivierung von Bewegung und durch Bearbeiten und Verändern psychosozialer Einflüsse. So geht es eher um eine Änderung der Richtung auf der Lebensbahn: Ursachen von Schmerz erkennen, Veränderung des eigenen Verhaltens, und Veränderungen z.B. innerhalb der Familie oder am Arbeitsplatz herbeizuführen. Aktiver werden oder Grenzen anerkennen, Ressourcen aktivieren und in eine neue Lebensbalance gelangen. Auf alle Fälle sollten die Betroffenen auch eine Eigenverantwortung für ihren Heilungsprozess übernehmen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Tanztherapie sehr gut geeignet ist, um auf die Besonderheiten von chronischen Schmerzpatienten einzugehen. Sie ist ein ressourcenorientiertes Verfahren und richtet die Aufmerksamkeit auf die Potentiale und Bewältigungsstrategien der Betroffenen. Im Klinikalltag erfordert die Vielschichtigkeit des Krankheitsbildes, mit seinen unterschiedlichen Ursachen und Begleiterkrankungen ein individuelles und flexibles Vorgehen. Der Meditative Tanz ist begrenzt in die Tanztherapie in Rahmen des MDT einsetzbar. Sehr geeignete Maßnahmen sind Bewegungsmeditationen und die Harmoniemethode© Nanni Kloke, die sowohl als Achtsamkeitstraining und Entspannungsverfahren dienen können. In ihrem symbolhaften Charakter können diese Methoden gezielt Therapieinhalte und Themen der Schmerztherapie bearbeiten und sind auch von körperlich sehr eingeschränkten Patienten durchführbar.
Literatur:
Kröner-Herwig B., Frettlöh J., Klinger R., Nilges P. (2010). Schmerzpsychotherapie. Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung. Springer Verlag
Nobis H.-G., Rolke R., Graf-Baumann T. (Hrsg.; 2012). Schmerz – eine Herausforderung. Informationen für Betroffene und Angehörige. Springer Medizin.
Hasenbrink M. (2001), Psychologische Mechanismen im Prozess der Schmerzchronifizierung. Unter- oder überbewertet? Schmerz 15/16: 442-447
Kloke N. (1998). Harmonien, Meditation der Gebärde. Pan Verlag
© Uta Böttcher, Göttingen
Tanz- und Schmerzphysiotherapeutin, Leiterin für Meditativen Tanz
www.uta-boettcher-tanz.de
www.boettcher-schmerztherapie.de